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Ethik und Tierversuche

 Ethik und Tierversuche  / Ethische Abwägung bei der Planung von Tierversuchen1

Definitionen:

  • Ethik (oder Moralphilosophie):
    Theorie der Sitten und Tugenden.
    Lehre vom richtigen Handeln.
    Suche nach dem Sinn und der Begründung von Werten und Normen
    (Was darf der Mensch, was ist „gut – böse“, „richtig – falsch“).
    Jede Ethik baut auf Prämissen auf, das heißt auf Voraussetzungen, die allgemeine Anerkennung gefunden haben und aus denen Verhaltensregeln für den Einzelfall abgeleitet werden können.
  • Moral:
    System von Regeln, sittlichen Normen und Werten, die das soziale Verhalten des Menschen betreffen und die der Gesellschaft zugrunde liegen.
    Summe der -ethisch begründeten- Ordnungs- und Sinngebilde, die durch Tradition oder Konvention vermittelt werden
    „Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem and‘ren zu“.
  • Bioethik ist eine Teildisziplin der Ethik. Sie untersucht moralische Fragen bei Eingriffen des Menschen in menschliches, tierisches und pflanzliches Leben.
  • Tierethik ist eine Teildisziplin der Bioethik. Ihr Gegenstand sind die moralischen Fragen, die sich aus der Nutzung (Ausbeutung) von Tieren durch den Menschen ergeben.
    Zentrale Fragen der Tierethik sind: Darf der Mensch Tiere für seine Interessen nutzen? Sind Handlungen gegenüber Tieren rechtfertigungsbedürftig?
  • Schmerz: unangenehme körperliche und emotionelle Wahrnehmung, die durch Gewebeschaden verursacht wird.
  • Leiden: alle emotionell unangenehmen Wahrnehmungen, die aus Schmerz, Angst, Langeweile, Einsamkeit, Krankheit etc. entstehen.
  • Angst: negative Emotion in scheinbar existenzbedrohender, als ausweglos empfundener Situation.
  • Schaden: Verletzungen (Gewebe) als Ursache für Schmerz. Entnahme von Geweben/Organen, Amputationen, induzierter Funktionsverlust. Der Tod ist ontogenetisch gesehen der größtmögliche Schaden.
  • vernünftiger Grund: ethische Rechtfertigung. Begründung, warum die Durchführung des Vorhabens (..der Tötung, des Tierversuchs..) gegenüber der Unterlassung das „kleinere Übel“ ist.
  • Recht ist die verbindliche Niederschrift einer moralischen Norm, um eine Lebensführung in Verantwortung gegenüber anderen sicher zu stellen; substantiell handelt es sich stets um einen Interessenausgleich. Anders als bei der Moral sind gesetzlich verankerte Rechte und Pflichten einklagbar. Deshalb wird darum gerungen, dass Tierschutz den Status eines Grundrechtes erhält („Waffengleicheit“).

Das Verhältnis Mensch-Tier
Der Mensch nutzt Tiere in vielfältiger Weise für seine Zwecke:

  • Nahrungsmittelindustrie/Massentierhaltungen
  • Jagd/Fischerei
  • Sport/Freizeit
  • Zoos/Zirkus
  • Haustiere; „Qualzüchtungen“ bei Hund und Katze, Exotenhaltung
  • Tierversuche (pro Bundesbürger werden lebenslang ein bis zwei Versuchstiere für biowissenschaftliche Zwecke geopfert)
  • Partner-Ersatz
  • Beanspruchung der Lebensräume von Tieren (Naturschutz)

Die Einstellung des Menschen gegenüber Tieren wird beeinflusst durch:

  • Kultur
  • Religion
  • Erziehung
  • Persönliche Erfahrung

religiös begründeter Tierschutz z.B. in den fernöstlichen Religionen wie Hinduismus, Buddhismus.

Anthropozentrik
Die Art und Weise der Nutzung von Tieren wird auch heute noch überwiegend durch ein anthropozentrisches Weltbild geprägt. Es entwickelte sich unter dem Einfluss monotheistischer Religionen (z.B. Christentum, Islam) und unter der Annahme, dass Vernunft ein Privileg des Menschen sei. Anthropozentrische Ethik basiert auf der Prämisse, dass die Schöpfung auf den Menschen ausgerichtet sei:

  • das Wohl des Menschen ist einziger möglicher Gegenstand moralischer Erwägungen
  • das Wohl der Tiere ist moralisch nicht relevant

Sofern es vor diesem Hintergrund überhaupt Tierschutzideen gab, waren sie wiederum anthropozentrisch begründet:
Schutz der Tiere geschieht nicht um ihrer selbst Willen, sondern weil durch grausame Behandlung der Tiere die Moralität des Menschen geschwächt bzw. zerstört wird (I. Kant, 1724 – 1804; ein Mensch, der gegen Tiere grausam ist, wird auch gegen Menschen grausam handeln).

Kritik
Das anthropozentrische Weltbild wird mit einer Vormachtstellung des Menschen und seinen besonderen humanen Qualitäten begründet:

  • Leidensfähigkeit
  • Lebenswille
  • Bewusstsein
  • Vernunft
  • Seele
  • Individualität, Ich-Gefühl
  • Selbstreflexion, Selbstwertgefühl
  • Würde
  • Sprache

Es ist jedoch evident, dass diese Fähigkeiten bei den Menschen sehr unterschiedlich oder bei Embryonen, Feten, Koma-Patienten, Geisteskranken- u.U. gar nicht ausgeprägt sind, während sie durchaus auch bei vielen Tieren gefunden werden können.

  • Sollte es dann nicht moralisch zulässig sein, Versuche an Embryonen, Feten, Menschen im Koma oder Geisteskranken durchzuführen?
  • Warum wird es als human angesehen, leidende Tiere einzuschläfern, während man todkranken Menschen ein Recht auf Euthanasie verwehrt?

Die wissenschaftlich unbegründete Berufung auf die Vorrangstellung des Menschen wird als Speziesismus bezeichnet.

  • Privilegierung der eigenen Gattung
  • bloße Zugehörigkeit zur Spezies Homo sapiens sei moralisch relevant

Art-Egoismus als ethisches Konzept hat letztlich u.a. zur Ausbeutung von Natur und Umwelt geführt, sich also als riskant für die Existenz des Menschen selbst erwiesen.

Ähnlichkeit
Die meisten Menschen sehen in Tieren schon intuitiv mehr als nur eine Sache und halten Tiere für schützenswert.

Vor allem aber vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse lässt sich die Vormachtstellung des Menschen über das Tier in der anthropozentrischen Ethik nicht mehr begründen. In allen Bereichen der medizinischen und biologischen Forschung findet man enorme Ähnlichkeit wenn nicht gar Übereinstimmung zwischen Mensch und Tier in

  • Morphologie und Funktion von Organen
  • Physiologie
  • Molekularbiologie und Genetik
  • Verhaltensmustern

und dies aufgrund gemeinsamer Abstammungsgeschichte.

Mit dieser Ähnlichkeit wird die Übertragbarkeit von Erkenntnissen zwischen Tier und Mensch begründet. So lassen sich durch Tierexperimente in 70 bis 80% der Fälle Wirkungen von Arzneimitteln beim Menschen voraussagen oder Gesundheitsrisiken bei der Exposition gegenüber Chemikalien definieren.

Mitgeschöpflichkeit

  • Analog zur organischen Entwicklung unterliegt auch die Herausbildung von Empfindungsfähigkeit und Bewusstsein einem evolutiven Prozess.
  • Homologien und Analogien nervaler Strukturen und vor allem Verhaltensexperimente (Belohnung) beweisen, dass Tiere Lust und Schmerz empfinden könnten.
  • Maßnahmen, die beim Menschen Schmerzen und Leiden hervorrufen, können dies genauso auch beim Tier tun.

Je mehr Tierversuche an einer bestimmten Spezies mit deren Ähnlichkeit zum Menschen begründet werden, desto mehr verbieten sich diese Versuche. Die Erkenntnis der gemeinsamen Entwicklung von Menschen und Tieren und deren Teilhabe an derselben Welt heißt, Tiere als unsere Mitgeschöpfe anzuerkennen.

Moralische Relevanz von Tieren
Moderne ethische Ansätze gehen daher davon aus, dass ein Gleichheitsprinzip Grundlage einer ethischen Theorie für den Umgang mit Tieren sein muss:
gleiche Interessen von Lebewesen müssen gleiche Berücksichtigung finden
aber
gleiche Berücksichtigung von Interessen bedeutet nicht gleiche Behandlung
(denn es gibt Unterschiede zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Tier)
(wesensmäßige Gerechtigkeit)

Dieser Grundsatz verlagert zunächst die Frage nach der moralischen Relevanz von Tieren auf die neue Frage, was denn nun die Interessen von Tieren sind und worin in Relation zum Menschen gleiche oder ungleiche Interessen bestehen.

Dieses Problem über der Suche nach typisch „humanen“ Qualitäten zu klären, scheint unmöglich. Die Existenz von Bewusstsein, Selbstwertgefühl, Würde, Vernunft, Seele usw. bei Tieren kann zwar vermutet, vom wissenschaftlichen Ansatz her aber kaum bewiesen werden. Diese Qualitäten sind nicht objektiv messbar und Tiere können nur in sehr eingeschränktem Maße über sich selbst Auskunft geben.

Zurzeit besteht Konsens darin, dass

  • Menschenaffen, Walen und Delphinen ein Überlebensinteresse und ein Interesse, den Tod nicht fürchten zu müssen, zugeschrieben werden kann,

und dass

  • diesen Tieren, die in ähnlicher Weise wie der Mensch über Selbst- und Zukunftsbewusstsein verfügen, außer in ihrem eigenen Interesse keine Leiden zugefügt werden sollten.


Pathozentrische Ethik
Die Diskussion um eine Tierethik wurde erheblich beflügelt, als man versuchte, Handlungsmaßstäbe nicht mehr aus eindeutigen Unterschieden, sondern aus den Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier abzuleiten:

  • Alle Lebewesen haben Interesse an einem „Guten Leben“.
  • Mindestbedingung, Lebensqualitäten differenzieren zu können, ist die Fähigkeit, Schmerzen und Leiden zu empfinden.
  • Das Vorhandensein von Leidensfähigkeit wird als kleinster gemeinsamer Nenner für die Begründung einer Handlungsethik gegenüber Lebewesen angesehen.

Daraus folgt:

  • Der Schutzanspruch, den Tiere genießen, orientiert sich an ihrer Leidensfähigkeit.
  • Verlust der Grundbedingungen guten Lebens führt zu Leiden. Darum ist der Mensch moralisch verpflichtet, auf alle Wesen, die leiden können, Rücksicht zu nehmen.
  • Einem leidenden Tier kann ein Interesse, nicht zu leiden, zugeschrieben werden, ohne ihm zugleich die Fähigkeit einer Urteilsbildung – etwa über die Qualität seines Leidens – zuzuschreiben.
  • Beim Tier wiegt Tötung u.U. weniger schwer als Leidenszufügung. Beim Menschen u.U. umgekehrt, weil er Leiden relativieren kann (Hoffnung auf Besserung danach). Moralische Bewertung setzt Klärung voraus, ob Tiere Zukunftsbewusstsein haben.

Das moralische Recht auf Freiheit von Wissenschaft und Forschung wäre demnach dort einzuschränken, wo die Ausübung dieses Rechts mit Zufügung von Leid (z.B. bei Versuchen mit Menschen oder Tieren) verbunden ist. Die Moral geht hier über das derzeit geltende Recht hinaus.

Tiere, menschliche Embryonen oder Menschen im Koma, die nicht leiden können, fallen aus dem Konzept der pathozentrischen Ethik zunächst heraus. Hier greift moralanaloge Achtung, möglicherweise aus einer religiösen Grundhaltung (menschliches Leben sei absolut heilig), oder etwa als Ausformung einer generellen Achtung vor der Natur (gefühlsbasierte Ethik; Scheu davor, etwas Lebendiges zu zerstören).

Der Interessenkonflikt
Mit der Anerkennung von Mitgeschöpflichkeit von Tieren wird auch anerkannt, dass Tiere selbstständige Interessen haben:

  • Recht auf Leben und Unversehrtheit
  • Achtung der Individualität und Einzigartigkeit
  • Achtung des Eigenwertes und der Würde

Dem entgegen stehen – ebenfalls ethisch zu rechtfertigende – Interessen der Menschen gegenüber Tieren:

  • Nahrungserwerb
  • Wissenserwerb, Wissensmehrung
  • Wahrnehmung zwischenmenschlicher Verantwortung (Medizin)
  • Sicherung der eigenen Existenz (Schädlinge …)
  • (gesellschaftlich akzeptiert: Freizeit, Hobby)

Konflikt:
Streben nach Verwirklichung menschlicher Werte oder Interessen steht der ethischen Grundhaltung der Mitgeschöpflichkeit und der Würde von Tieren entgegen.

Aus der ethischen Zwickmühle, in der man sich hier unvermeidbar befindet, führen nur Kompromisslösungen wieder heraus. Die Kompromisslösung besteht in einer Relativierung von Interessen und ist natürlich weltanschaulich bzw. subjektiv geprägt.

Der gesetzlich geregelte Tierschutz basiert auf diesem Grundsatz. Er ist Ausdruck des gesellschaftlich und mehrheitlich gewollten Appells an unsere Schuldempfindung gegenüber Tieren, die wir für unsere Interessen nutzen. Das Tierschutzgesetz definiert den Rahmen und die Bedingungen der Nutzung von Tieren in unserer Gesellschaft. Die darin zum Ausdruck kommende moralische Grundhaltung ist:

Das Recht, das der Mensch sich nimmt, Tiere zu nutzen, ist gekoppelt mit der Pflicht, den Missbrauch dieses Rechts zu vermeiden.

Das Tierschutzrecht ist nicht statisch, sondern unterliegt weiterhin einer ständigen Diskussion, die durch das Verhalten der Tiernutzer entscheidend mitgeprägt werden kann. So wurden in den letzten Jahren von wissenschaftlichen Fachgesellschaften und Gremien in zahlreichen Ländern im Sinne einer Selbstverpflichtung ethische Grundsätze für den Einsatz von Tieren in Versuchen erarbeitet. Tierversuche werden letztlich immer als grausige Notwendigkeit zu empfinden sein.
Nur ethische Tierversuche (Nachweis von Unerlässlichkeit und ethischer Vertretbarkeit im Sinne einer Güterabwägung) sind überhaupt genehmigungsfähig.


Links zur Vertiefung der Thematik:

 

 

1. Dr. Wolfgang Geise
Tierschutzbeauftragter der Universität Würzburg
Tel.: 0931 / 31-82543, Fax: 0931 / 31-82615
E-Mail: wolfgang.geise@uni-wuerzburg.de